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Das Adjektiv postfaktisch beschreibt einen (gesellschaftlichen) Zustand, in dem die Fakten zugunsten einer (kollektiv) gefühlten Wahrheit zurückgedrängt werden (bzw. Fakten seien keine Fakten, sondern Machenschaften der Lügenpresse).
Postfaktisch wurde von der GfdS zum Wort des Jahres 2016 gekürt. Das Substantiv lautet: Postfaktizität.

Das lateinische Präfix „post-„ wird wörtlich mit „später, hinter, nach“ übersetzt: Bekannte Beispiele sind „post mortum“ (= nach dem Tod) oder „post festum“ (= wörtlich: nach dem Fest; metaphorisch: nachher, wenn alles vorbei ist).

Bedeutungen

auf Meinungen, nicht auf Tatsachen beruhend

Allerdings wandelt sich die Bedeutung manchmal im Verlauf von Jahrzehnten: siehe den in den 1960iger Jahren neu entstandenen Begriff „Postmoderne“ der im US-amerikanischen Literaturdiskurs vor allem von Irving Howe, Susan Sontag und Leslie Fiedler um-geprägt wurde.

Früher benutzen Politiker gerne auch performative Sätze in ihren Reden, d.h. allein durch die Macht der Sprache wollten sie suggerieren Fakten zu schaffen. Aber das kam beim Publikum nur begrenzt gut an, vor allem weil der Schwindel auch recht leicht zu durchschauen war.
Gegen ein performatives „Ich sage, so und so soll es sein …“ (was sich ja auf die Gegenwart bzw. Zukunft bezieht) ist natürlich die postfaktische Verdrehung der Vergangenheit ein wesentlich wirksameres Mittel.

Beispiele

„Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen.“ — Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin, in einer Rede im September 2016

„Die Welt und vielleicht auch die EU-Wahl werden von Fake-News bedroht. Das heißt aber nicht, dass wir in postfaktischen Zeiten leben. Es war vor 250 Jahren nicht anders.“ — Sophia Rosenfeld in DIE ZEIT, 09. Mai 2019

„Eben noch wähnten wir uns im postfaktischen Zeitalter, jetzt geben Virologen und Epidemiologen der Politik den Takt vor.“ — Hannoversche Allgemeine, 30. März 2020

„In der italienischen Neuverfilmung steckt einiges an politischem Subtext. Und vielleicht passt die Fabel von der flunkernden Holzpuppe besonders gut in postfaktische Zeiten.“ — Andreas Scheiner über die Neuverfilmung (2019) des Buches "Pinocchio" in der NZZ, 06. Juli 2020

„Pandemie und postfaktisches Zeitalter sorgen für einen Boom der Dokumentationen. Gefragt sind nonfiktionale Filme mit Covid, Klimawandel, Nachhaltigkeit und Geständnissen.“ — Doris Priesching in "Der Standard", 20. April 2021

„Diese postfaktische Politik ist inzwischen eine reale Gefahr für den Fortbestand unserer liberalen Demokratie. Sie darf, wie das Virus, nicht unterschätzt werden.“ — Prof. Dr. Markus Gabriel in Welt, 22. April 2021

Etymologie

Lehnübersetzung aus des Englischen "post-truth", das von Ralph Keyes in seinem Buch „The Post-Truth Era“ (2004) geprägt wurde. Das Wort ist im Deutschen ein Neologismus der 2010er Jahre.

Synonyme

unsachlich, tendenziös, voreingenommen, gefühlsmäßig, polemisch, populistisch

Antonyme

faktisch, sachlich, auf Fakten beruhend

 


 

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